Wenn gut nicht gut genug ist – krankmachender Perfektionszwang bei Musiker*innen
Im Juli lief der Film „Das Vorspiel“ von Ina Weisse auf Arte. Hier wie auch im oscarprämierten Drama „Whiplash“ von Damien Chazelle aus dem Jahr 2014 ist die Ausbildung von Musikern das Thema. Falsch: Es wird gezeigt, wie die oft verbreiteten Methoden der instrumentalpädagogischen Spitzenausbildung Menschen zerstören können.
In „Whiplash“ (engl. bezeichnenderweise das Wort für Peitschenhieb) wird ein junger, hochtalentierter Drummer mit den Ausbildungsmethoden eines Lehrers konfrontiert, die sich durch sadistische Strenge und emotionale Demütigungen auszeichnen. Dies führt z.B. dazu, dass der Protagonist Andrew Neiman zunächst sogar die Beziehung zu seiner Freundin zuliebe der Ausbildung beendet. Aber auch dieses Opfer reicht nicht: Nachdem er nach einem Unfall zu spät und verletzt zu einer Aufführung erscheint, wird er von seinem Lehrer aus der Band geworfen und des im Zuge der nachfolgenden Auseinandersetzung des Konservatoriums verwiesen. Die Methoden des Lehrers werden erst nach dem Suizid eines anderen Schülers offenbar und führen zur Entlassung des Lehrers. Im Film gibt es natürlich, wie in Hollywood üblich, ein Happyend: Andrew hört zwar zunächst komplett zu drummen auf, wird aber ausgerechnet von seinem ehemaligen Lehrer mit einem Auftritt in dessen Band geködert, wieder anzufangen. Sein Ziel, Andrew öffentlich bloßzustellen, wird aber durch die mentale Stärke und das Durchhaltevermögen Andrews vereitelt.
Viele Musiker*innen können leider von ähnlichen Erlebnissen in ihrer Ausbildung berichten. Einige hochdekorierte Professor*innen, die meistens nicht über eine pädagogische Ausbildung verfügen, sondern aufgrund ihrer solistischen Fähigkeiten in ihr Amt gekommen sind, zeichnen sich durch übergriffige Methoden aus. Das Selbstwertgefühl der Studierenden, die von diesen Professor*innen ausgebildet werden, kann dadurch erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Und auch die musikalische Leistung der Studierenden leidet.
Von der Musik abgeschottet
Im Film „Das Vorspiel“ wird dies deutlich, als der Protagonist, der Geigenschüler Alexander schließlich beim Vorspiel das Presto von Bach zwar in rasantem Tempo und lupenrein vorträgt, aber innerlich nicht anwesend wirkt. Seine Augen sind leer. Er spielt zwar technisch perfekt. Aber die Musik kommt nicht mehr in seinem Spiel vor. Er hat sich innerlich von der Musik abgeschottet. Bemerkenswert ist, dass keiner es merkt: Nicht seine Mitstudierenden, nicht die Lehrerschaft, seine Mutter und am wenigsten seine eigene Lehrerin Anna.
Diese ist das beste Beispiel, wohin das Abspalten der eigenen Persönlichkeit vom Musizieren führen kann: Sie wagt nicht mehr selbst zu spielen, da sie meint, den hohen Anforderungen eines solistischen Spiels nicht gerecht werden zu können. Sie meint es. Es ist defacto aber nicht so. Sie ist instrumentaltechnisch durchaus in der Lage, auf hohem Niveau zu spielen. Sie steht sich selbst durch ein massiv gestörtes Selbstwertgefühl im Weg. Als sie dennoch versucht an einem Kammermusikkonzert mitzuwirken, kommt es zum totalen Zusammenbruch: Sie flieht vom Konzertort, baut dabei einen Unfall und ist danach nicht mehr in der Lage, ihren Beruf und sogar ihren Alltag mit Familie zu bewältigen. Burnout.
Wie viele Annas, Alexanders oder Andrews mag es wohl geben? Und wie viele von ihnen werden es wie Andrew schaffen, aus diesem Abgrund wieder aufzutauchen und auch ihre Freude am Musizieren wieder zu finden?
Unsere Ausbildung stellt technische Perfektion in den Mittelpunkt. Der Mensch wird dabei leider oft vergessen. Und doch sind es die Menschen, die die von uns allen geliebte Musik machen. Die Menschen mit ihren Erfahrungen, mit ihren im Inneren durchlebten Konflikten füllen die gespielte Musik erst mit Leben, mit Emotionen. Denn Musik ist immer auch ein Ausdruck der menschlichen Emotionen. Wenn das technische Können auf die in der Musik zum Ausdruck gebrachten Emotionen treffen, entstehen Interpretationen, die fesseln und die Zuhörer im Innern berühren. Dann entsteht die Magie, die Musik ausmacht. Dann kann Musik zu einem beseelenden und wohltuenden Erlebnis werden.
Kann ein Mensch Emotionen in der Musik ausdrücken, der wie ein Zirkuspferd von klein auf nur auf instrumentaltechnische Hochleistung getrimmt wurde? Ein Mensch, der nur in seinem Kämmerlein die Tonleitern hoch und runter gejagt ist und z.B. kein Pferd gesehen hat. Wie soll er denn wissen, wie sich Galopp reiten anfühlt? Und wie soll er dieses Gefühl denn musikalisch ausdrücken können?
Spielen unter Schmerzen
Immer wieder begegnen mir Musiker*innen, die unter Schmerzen spielen. Menschen für die Musik machen zu einer Qual geworden ist und die daran verzweifeln, dass ihnen durch ihre Beschwerden die Freude an der Musik genommen wird. Denn Musiker sein ist mehr als ein Beruf. Es ist der Lebensinhalt.
Wenn dann tiefer nach der Ursache geschaut wird, tauchen immer wieder dieselben Muster auf: Arbeiten ohne Unterlass, ohne Pausen, ohne Urlaub. Soziale Vereinsamung. Nur noch das Instrument steht im Fokus. Und die Identifikation ist nur noch auf das Instrumentalspiel fixiert. Das funktioniert aber nicht mehr so wie erhofft. Die Folge ist dann noch mehr Üben.
So entsteht ein Teufelskreis: Die Fehlhaltungen und Fehlbelastungen nehmen immer mehr zu. Dadurch werden die Schmerzen immer stärker. Spielen geht nur noch unter Medikamenten. Der Stresslevel steigt immer mehr. Bis es schließlich so weit kommt, dass gar nichts mehr geht – entweder der mentale Zusammenbruch in Form eines Burnouts oder der körperliche. Im schlimmsten Fall in Form der gefürchteten fokalen Dystonie.
Musikergesundheit & Corona
Wir haben in Deutschland leider keine aktuellen Zahlen, wie sich die Corona Epidemie auf die gesundheitliche Belastung von Musiker*innen ausgewirkt hat. Daher greife ich auf Studien aus der Zeit vor Corona zurück: Bei verschiedenen Studien zur Musikergesundheit in unterschiedlichen Ländern ist man länderübergreifend zum Ergebnis gekommen, dass mindestens 40% aller Musiker*innen unter Schmerzen spielen. Meist ist – und hier gibt es instrumentenspezifische Unterschiede – von einer Anzahl deutlich über 50% auszugehen. In der Studie von Blum, bei der 1432 Musiker*innen aus 83 deutschen Orchestern befragt wurden, gaben sogar 86% an, unter Beschwerden zu leiden. So starken Schmerzen, dass sie in ihrer Berufsausübung eingeschränkt seien, beklagten 76% der Befragten. Meist sind es Beschwerden des Bewegungsapparates, aber auch Lampenfieber bzw. Angstzustände wurden beklagt. Spahn ermittelte bei ihrer Studie unter Musikstudierenden, dass 68% unter körperlich-seelischen Belastungen litten. Seidel kam zu dem Ergebnis, dass 85% der Studierenden vor allem durch Auftrittsängste unter Einschränkungen litten.
Ausgelöst wurden die Beschwerden, so die Autoren in der amerikanischen Zeitschrift „Performing arts medicine“ durch:
- Seit der frühen Kindheit überhöhte Erwartungen und Anforderungen
- Ununterbrochene Forderungen an Perfektion
- Intensive und lange Übzeiten seit Kindheit
- Erheblicher Konkurrenzdruck
- Große Versagensängste
- Unsichere Karrierechancen
- Instrumentenspezifische Besonderheiten und Schwierigkeiten
Wir leben als Musiker*innen seit Jahrzehnten ähnlich wie beim Leistungssport im übertragenen Sinne in der Spirale „höher, weiter, schneller“. Aber eine entsprechende breite Unterstützung seitens ausgebildeter Mental- und Körperarbeits-Coaches und dem im Sport schon üblichen Tross an begleitendem medizinischen Personal in Form von spezialisierten Ärzten und Physiotherapeuten fehlt in den meisten Fällen. Das wäre auch bei der finanziellen Ausstattung vieler, vor allem der unabhängigen Träger kultureller Institutionen gar nicht leistbar. Und die oft unter prekären Bedingungen arbeitenden Musiker*innen können sich das schon gar nicht leisten.
Sich arrangieren
Also bleibt Vielen nur, sich mit der Situation zu arrangieren. Oder zu resignieren. Oder aufzugeben. Oder: Es doch aller Widrigkeiten zu Trotz zu versuchen, mit den selbst zur Verfügung stehenden Mitteln die Situation zu verbessern.
Ein erster Schritt hierzu wäre beispielsweise sich bewusst zu machen, dass wir nicht immer und zu jeder Zeit perfekt sein müssen. In der Praxis von Gerrit Onne van de Klashorst, dem Begründer der Dispokinesis, hing ein Schild mit dem Satz: Gut ist gut genug! Machen wir uns das zu eigen, nimmt dies sehr viel vom übersteigerten Leistungsdruck, unter dem viele Musiker*innen zu zerbrechen drohen. Vergessen wir nicht das Leben. Denn das Leben besteht nicht nur aus Üben. Oder, wie es im Film „Das Vorspiel“ vom Ehemann der Geigenlehrerin Anna gesagt wird: „Die Geige ist nur ein schmales Stück vom Leben.“
Dieser Artikel ist erschienen in: Neue Musikzeitung, Ausgabe 09/2022
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